Richter Cingi hatte begründete Zweifel an den Aussagen der Polizist*innen | Foto: Thomas / Radio Dreyeckland
Aufnahmen der Videoüberwachung widerlegen die Polizeiaussagen. Ohne sie wäre O. wohl verurteilt worden – doch das Gericht sprach ihn frei.
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Es ist 6 Uhr morgens im Oktober 2023: Nach einer zwölfstündigen Nachtschicht wird der examinierte Altenpfleger und Familienvater Eric Clifford O. am Ende der Kurpfalzbrücke in Mannheim auf seinem E-Scooter von einem Streifenwagen gestoppt. Laut Polizei folgt eine routinemäßige Verkehrskontrolle. Doch schnell entwickelt sich die Situation in eine andere Richtung: Ohne ersichtlichen Grund verdächtigen die Beamt*innen O. des Drogenkonsums. Als er dies entschieden verneint und sich weigert, eine Urinprobe unterhalb der Kurpfalzbrücke abzugeben, eskaliert die Lage. Der aus Nigeria stammende 27-Jährige wird gewaltsam an das Brückengeländer gedrückt, zu Boden gebracht und festgenommen. O. bringt den Vorfall zur Anzeige – eine strafrechtliche Verfolgung bleibt jedoch aus. Stattdessen wird er von der Polizei wegen angeblichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte angezeigt. Über ein Jahr später kommt es zum Prozess – mit einem eindeutigen Ergebnis: Das Amtsgericht Mannheim spricht O. frei und zieht die Rechtmäßigkeit der Polizeimaßnahmen in Zweifel.
Taschenkontrollen und volle Zuschauer*innenränge
Rund 15 Unterstützer*innen erscheinen zur Prozessbegleitung, um ihre Solidarität mit Eric Clifford O. zu bekunden – aufgerufen von der Beratungsstelle Leuchtlinie Baden-Württemberg, der Initiative 2. Mai und dem Antidiskriminierungsbüro Mannheim. Die eingangs ungewöhnlich intensiven und langwierigen Taschendurchsuchungen durch Justizwachtmeister verzögern jedoch den Zugang vieler Zuschauer*innen um teils über 35 Minuten. Der Pressesprecher des Amtsgerichts spricht später auf Nachfrage von einer „anlassunabhängigen Kontrolle“. Diese betraf jedoch ausschließlich die Besucher*innen von O.s Prozess. Also doch eine gezielte Maßnahme? Der Verdacht liegt nahe.
Aussage des Beschuldigten
Zu Beginn des Prozesses schildert O. seine Sicht auf den Vorfall: den Heimweg nach einer anstrengenden Schicht, die unerwartete Kontrolle und den unbegründeten Verdacht, unter Drogeneinfluss zu stehen – einen Vorwurf, den er entschieden zurückwies. Er betont, dass er die Beamt*innen darauf hingewiesen habe, seine Chefin könne telefonisch seine Arbeitszeiten bestätigen. Doch diese ignorierten O.s Erklärung. „Ich habe den Hass gefühlt, da war keine Freundlichkeit“, berichtet er.
Nachdem O. sein Handy zückte, versuchte der Polizist, ihm das Gerät zu entreißen. Laut O. kam es zu einem Gerangel, bei dem er gegen das Brückengeländer gedrückt wurde. Dieser Moment sei für ihn mit Dunkelheit, einem tiefen Abgrund und Todesangst verbunden gewesen. Er rief um Hilfe, doch die Polizei setzte ihre Maßnahmen fort.
Später wurde er in Handschellen in einen Streifenwagen abgeführt. Auf der Polizeiwache in L6 musste sich O. einem Drogen- und Alkoholtest unterziehen. Schließlich wurde ihm ohne sein Einverständnis Blut von einem Arzt abgenommen. Der Drogentest fiel negativ aus, und der Atemalkoholtest wies 0,0 Promille auf.
Auf der Wache sei O. respektlos behandelt, eingeschüchtert und als „Penner“ beleidigt worden. Seither leide er unter Schlafstörungen, Panikattacken und Angst vor Polizeisirenen – psychische Schäden, die ihn vermutlich noch lange begleiten werden.
Aufnahmen der Videoüberwachung
Der Richter lässt als Nächstes zwei Videos im Gerichtssaal abspielen – ein entscheidender Moment im Verfahren. Eine Überwachungskamera der Stadt Mannheim, nahe der Alten Feuerwache, hält den Vorfall lückenlos fest. Zu sehen ist ein Streifenwagen, der sehr langsam an O. vorbeifährt. Kurz danach steigen zwei Beamt*innen aus und beginnen ein Gespräch mit ihm.
Im Video ist zu erkennen, dass O. weder aggressives Verhalten zeigt noch die Flucht ergreift. Er wirkt ruhig, bis der Polizist versucht, ihm das Handy zu entreißen und ihn dabei umklammert. Seine Kollegin sieht währenddessen zu. Es kommt zu einer Rangelei, in deren Verlauf der Polizist O. in einen Würgegriff nimmt und an das Brückengeländer drückt. Während des Gerangels um das Handy stürzt der Polizist kurz zu Boden.
Die Aufnahme zeigt, dass O. ruhig bleibt, während der Polizist aufsteht und ihn schließlich brutal fixiert. Danach trifft Verstärkung ein: Vor Ort befinden sich nun vier Streifenwagen und acht Beamt*innen.
Videoaufnahmen und widersprüchliche Polizeivermerke
Nach der Sichtung des Sicherheitsvideos und der Begutachtung von Beweisfotos, die O.s blutige Verletzungen im Gesicht und an seinen Handgelenken zeigen, wird der Vermerk des ersten Polizeihauptkommissars verlesen – denn der Beamte fehlt. Zum Zeitpunkt des Prozesstages ist er krankgeschrieben und kann nicht persönlich aussagen. Schnell wird klar, dass seine Darstellung des Geschehens stark von den Szenen der Videos abweicht.
Laut Vermerk stellten die Beamten bei O. mit einer Taschenlampe erweiterte Pupillen fest und verdächtigten ihn deshalb des Drogenkonsums – auf den Videoaufnahmen ist davon jedoch nichts zu erkennen. Weiter wird behauptet, der Angeklagte sei „hysterisch“ gewesen und habe sich der Kontrolle entziehen wollen. Er habe den Polizeihauptkommissar mit einem „Beinhebel“ zu Boden gebracht und dabei dessen Hüftprellung verursacht.
Auch die 22-jährige Polizeistudentin, die als Zeugin aussagt, schildert den Vorfall anders als das Video zeigt – obwohl sie die Aufnahmen bereits vor ihrer Aussage gesehen hatte. Genau wie ihr Kollege schildert sie, O. sei sehr aufgebracht gewesen und habe sich immer weiter entfernt. Ansonsten bleiben ihre Antworten ungenau, an vieles könne sie sich kaum oder gar nicht erinnern.
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Kritische Fragen des Richters bringen sie ins Stolpern. Warum sie ihren Vermerk erst Wochen nach dem Vorfall schrieb, kann sie nicht nachvollziehbar erklären. Auch auf die Fragen, wann, warum und wo sie das Überwachungsvideo gesehen habe, hat sie keine Antwort.
Was ist der Grund für die massive Diskrepanz?
Die vielen widersprüchlichen Aussagen der beiden Polizist*innen werfen offensichtlich auch bei der Staatsanwaltschaft Fragen auf. Im Video ist weder zu sehen, wie ein „Beinhebel“ O.s den Polizisten zu Boden bringt, noch wie der Angeklagte „hysterisch“ gestikuliert oder versucht, sich aus der Situation zu entfernen. Auch eine Taschenlampenkontrolle zur Überprüfung auf Drogenkonsum ist auf den Aufnahmen nicht erkennbar.
Die eindeutige Diskrepanz zwischen den Videoaufnahmen und den Aussagen lässt Fragen zur Motivation der Kontrolle aufkommen. Die Umstände der Kontrolle legen nahe, dass O. möglicherweise aufgrund rassistischer Vorurteile des Drogenkonsums verdächtigt wurde. Diese Art der Kontrolle durch Beamt*innen ist als Racial Profiling bekannt.
Der Journalist Mohamed Amjahid erklärt in seinem 2024 erschienenen Buch Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt: „Racial Profiling ist die polizeiliche Praxis der selektiven Überprüfung von nicht-weißen Menschen aufgrund äußerlicher Merkmale wie Haut- oder Haarfarbe, aber auch aufgrund erkennbarer kultureller Symbole wie Kopftuch oder Kippa.“
Selbst die Staatsanwältin fordert Freispruch
Nach Abschluss der Beweisaufnahme spricht die Staatsanwältin. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Polizeimaßnahmen nicht rechtmäßig waren und hebt hervor, dass es deutliche Widersprüche zwischen den Aussagen der Polizist*innen und den Sicherheitsvideos gibt. Ein Freispruch sei daher die einzig gerechte Entscheidung.
Richter Cingi folgt dieser Einschätzung und spricht O. frei – sein erster Freispruch in seiner 15-jährigen Laufbahn, wobei er erst seit sechs Monaten als Strafrichter tätig ist. Deshalb, betont er, werde ihm diese Verhandlung besonders in Erinnerung bleiben. Auch er nimmt die auffallend ähnlichen schriftlichen Vermerke der Polizist*innen zur Kenntnis, die sich mit den Videoaufnahmen nicht decken. „Ohne das Video wäre der Fall wohl anders ausgegangen“, bemerkt Cingi. Zudem weist er darauf hin, dass sich Personen gegen rechtswidrige Polizeimaßnahmen wehren dürfen.
O.s Verteidiger betont: „Polizisten genießen vor Gericht oft einen Vertrauensvorschuss.“ Richter Cingi zeigt Verständnis für den Vertrauensverlust seitens des Angeklagten, hofft jedoch, dass dieses Verfahren dazu beiträgt, wieder mehr Vertrauen in die Justiz – auch seitens der Staatsanwaltschaft – zu stärken.
Sichtlich bewegt zeigte sich O. nach dem Urteil. Zu Tränen gerührt nahm er den Freispruch mit Erleichterung auf. Auch die Prozessbegleitenden reagierten erleichtert. Eric Clifford O. bedankte sich für die große Unterstützung und betonte, dass er mit so viel Zuspruch nicht gerechnet habe.
Kommentar
Der Fall von Eric Clifford O. zeigt erneut, dass Gewalt und Racial Profiling tief in den Strukturen der Polizei verankert sind. Dass O. ohne das Video möglicherweise verurteilt worden wäre, ist ein alarmierendes Zeichen für den Zustand unserer Rechtsstaatlichkeit. Besonders problematisch sind die auffallend ähnlichen Aussagen der Polizist*innen, die den Videoaufnahmen widersprechen und auf eine rechtswidrige Zeug*innenabsprache hindeuten. Zudem ist die vorzeitige Sichtung von Beweismaterial, wie etwa der Videos, für alle Beteiligten unzulässig. Warum ist es den Beamt*innen dennoch möglich, all dies ohne jede Konsequenz zu tun? Hier wird deutlich, wie leicht sich ein rechtsstaatliches Verfahren durch polizeiinterne Kompliz*innenschaft manipulieren lässt.
Dass O.s Anzeige sofort fallengelassen wurde, betont einmal mehr, dass Polizei und Justiz oft auf derselben Seite stehen und sich gegenseitig schützen. Was also tun, wenn man selbst Opfer einer unrechtmäßigen, gewaltvollen Polizeimaßnahme wird? Wichtig ist: Man hat das Recht, Polizeieinsätze zu filmen – solange die Beamt*innen dabei nicht aktiv behindert werden. Auch darf in Frage gestellt werden, warum eine Kontrolle durchgeführt wird und ob eine rechtliche Grundlage besteht. Drogentests wie Urin- oder Speichelproben sind freiwillig und können verweigert werden – ein Bluttest erfordert einen richterlichen Beschluss. Trotzdem bleibt das Risiko hoch, dass die Polizei eigene Übergriffe vertuscht und stattdessen Betroffene kriminalisiert.
Racial Profiling und Polizeigewalt sind keine isolierten Vorfälle, sondern ein strukturelles Problem, das vor allem Migrant*innen betrifft. Vollste Solidarität gilt all denen, die von diesen oder ähnlichen Ungerechtigkeiten betroffen sind. Es braucht unabhängige Kontrollinstanzen, verpflichtende Anti-Diskriminierungs-Schulungen und lückenlose Aufklärung. Wie viele Fälle gibt es, in denen kein Video existiert? Wer schützt die Menschen vor denen, die eigentlich für Schutz zuständig sind?
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Aufnahmen der Videoüberwachung widerlegen die Polizeiaussagen. Ohne sie wäre O. wohl verurteilt worden – doch das Gericht sprach ihn frei.
Es ist 6 Uhr morgens im Oktober 2023: Nach einer zwölfstündigen Nachtschicht wird der examinierte Altenpfleger und Familienvater Eric Clifford O. am Ende der Kurpfalzbrücke in Mannheim auf seinem E-Scooter von einem Streifenwagen gestoppt. Laut Polizei folgt eine routinemäßige Verkehrskontrolle. Doch schnell entwickelt sich die Situation in eine andere Richtung: Ohne ersichtlichen Grund verdächtigen die Beamt*innen O. des Drogenkonsums. Als er dies entschieden verneint und sich weigert, eine Urinprobe unterhalb der Kurpfalzbrücke abzugeben, eskaliert die Lage. Der aus Nigeria stammende 27-Jährige wird gewaltsam an das Brückengeländer gedrückt, zu Boden gebracht und festgenommen. O. bringt den Vorfall zur Anzeige – eine strafrechtliche Verfolgung bleibt jedoch aus. Stattdessen wird er von der Polizei wegen angeblichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte angezeigt. Über ein Jahr später kommt es zum Prozess – mit einem eindeutigen Ergebnis: Das Amtsgericht Mannheim spricht O. frei und zieht die Rechtmäßigkeit der Polizeimaßnahmen in Zweifel.
Taschenkontrollen und volle Zuschauer*innenränge
Rund 15 Unterstützer*innen erscheinen zur Prozessbegleitung, um ihre Solidarität mit Eric Clifford O. zu bekunden – aufgerufen von der Beratungsstelle Leuchtlinie Baden-Württemberg, der Initiative 2. Mai und dem Antidiskriminierungsbüro Mannheim. Die eingangs ungewöhnlich intensiven und langwierigen Taschendurchsuchungen durch Justizwachtmeister verzögern jedoch den Zugang vieler Zuschauer*innen um teils über 35 Minuten. Der Pressesprecher des Amtsgerichts spricht später auf Nachfrage von einer „anlassunabhängigen Kontrolle“. Diese betraf jedoch ausschließlich die Besucher*innen von O.s Prozess. Also doch eine gezielte Maßnahme? Der Verdacht liegt nahe.
Aussage des Beschuldigten
Zu Beginn des Prozesses schildert O. seine Sicht auf den Vorfall: den Heimweg nach einer anstrengenden Schicht, die unerwartete Kontrolle und den unbegründeten Verdacht, unter Drogeneinfluss zu stehen – einen Vorwurf, den er entschieden zurückwies. Er betont, dass er die Beamt*innen darauf hingewiesen habe, seine Chefin könne telefonisch seine Arbeitszeiten bestätigen. Doch diese ignorierten O.s Erklärung. „Ich habe den Hass gefühlt, da war keine Freundlichkeit“, berichtet er.
Nachdem O. sein Handy zückte, versuchte der Polizist, ihm das Gerät zu entreißen. Laut O. kam es zu einem Gerangel, bei dem er gegen das Brückengeländer gedrückt wurde. Dieser Moment sei für ihn mit Dunkelheit, einem tiefen Abgrund und Todesangst verbunden gewesen. Er rief um Hilfe, doch die Polizei setzte ihre Maßnahmen fort.
Später wurde er in Handschellen in einen Streifenwagen abgeführt. Auf der Polizeiwache in L6 musste sich O. einem Drogen- und Alkoholtest unterziehen. Schließlich wurde ihm ohne sein Einverständnis Blut von einem Arzt abgenommen. Der Drogentest fiel negativ aus, und der Atemalkoholtest wies 0,0 Promille auf.
Auf der Wache sei O. respektlos behandelt, eingeschüchtert und als „Penner“ beleidigt worden. Seither leide er unter Schlafstörungen, Panikattacken und Angst vor Polizeisirenen – psychische Schäden, die ihn vermutlich noch lange begleiten werden.
Aufnahmen der Videoüberwachung
Der Richter lässt als Nächstes zwei Videos im Gerichtssaal abspielen – ein entscheidender Moment im Verfahren. Eine Überwachungskamera der Stadt Mannheim, nahe der Alten Feuerwache, hält den Vorfall lückenlos fest. Zu sehen ist ein Streifenwagen, der sehr langsam an O. vorbeifährt. Kurz danach steigen zwei Beamt*innen aus und beginnen ein Gespräch mit ihm.
Im Video ist zu erkennen, dass O. weder aggressives Verhalten zeigt noch die Flucht ergreift. Er wirkt ruhig, bis der Polizist versucht, ihm das Handy zu entreißen und ihn dabei umklammert. Seine Kollegin sieht währenddessen zu. Es kommt zu einer Rangelei, in deren Verlauf der Polizist O. in einen Würgegriff nimmt und an das Brückengeländer drückt. Während des Gerangels um das Handy stürzt der Polizist kurz zu Boden.
Die Aufnahme zeigt, dass O. ruhig bleibt, während der Polizist aufsteht und ihn schließlich brutal fixiert. Danach trifft Verstärkung ein: Vor Ort befinden sich nun vier Streifenwagen und acht Beamt*innen.
Videoaufnahmen und widersprüchliche Polizeivermerke
Nach der Sichtung des Sicherheitsvideos und der Begutachtung von Beweisfotos, die O.s blutige Verletzungen im Gesicht und an seinen Handgelenken zeigen, wird der Vermerk des ersten Polizeihauptkommissars verlesen – denn der Beamte fehlt. Zum Zeitpunkt des Prozesstages ist er krankgeschrieben und kann nicht persönlich aussagen. Schnell wird klar, dass seine Darstellung des Geschehens stark von den Szenen der Videos abweicht.
Laut Vermerk stellten die Beamten bei O. mit einer Taschenlampe erweiterte Pupillen fest und verdächtigten ihn deshalb des Drogenkonsums – auf den Videoaufnahmen ist davon jedoch nichts zu erkennen. Weiter wird behauptet, der Angeklagte sei „hysterisch“ gewesen und habe sich der Kontrolle entziehen wollen. Er habe den Polizeihauptkommissar mit einem „Beinhebel“ zu Boden gebracht und dabei dessen Hüftprellung verursacht.
Auch die 22-jährige Polizeistudentin, die als Zeugin aussagt, schildert den Vorfall anders als das Video zeigt – obwohl sie die Aufnahmen bereits vor ihrer Aussage gesehen hatte. Genau wie ihr Kollege schildert sie, O. sei sehr aufgebracht gewesen und habe sich immer weiter entfernt. Ansonsten bleiben ihre Antworten ungenau, an vieles könne sie sich kaum oder gar nicht erinnern.
Kritische Fragen des Richters bringen sie ins Stolpern. Warum sie ihren Vermerk erst Wochen nach dem Vorfall schrieb, kann sie nicht nachvollziehbar erklären. Auch auf die Fragen, wann, warum und wo sie das Überwachungsvideo gesehen habe, hat sie keine Antwort.
Was ist der Grund für die massive Diskrepanz?
Die vielen widersprüchlichen Aussagen der beiden Polizist*innen werfen offensichtlich auch bei der Staatsanwaltschaft Fragen auf. Im Video ist weder zu sehen, wie ein „Beinhebel“ O.s den Polizisten zu Boden bringt, noch wie der Angeklagte „hysterisch“ gestikuliert oder versucht, sich aus der Situation zu entfernen. Auch eine Taschenlampenkontrolle zur Überprüfung auf Drogenkonsum ist auf den Aufnahmen nicht erkennbar.
Die eindeutige Diskrepanz zwischen den Videoaufnahmen und den Aussagen lässt Fragen zur Motivation der Kontrolle aufkommen. Die Umstände der Kontrolle legen nahe, dass O. möglicherweise aufgrund rassistischer Vorurteile des Drogenkonsums verdächtigt wurde. Diese Art der Kontrolle durch Beamt*innen ist als Racial Profiling bekannt.
Der Journalist Mohamed Amjahid erklärt in seinem 2024 erschienenen Buch Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt: „Racial Profiling ist die polizeiliche Praxis der selektiven Überprüfung von nicht-weißen Menschen aufgrund äußerlicher Merkmale wie Haut- oder Haarfarbe, aber auch aufgrund erkennbarer kultureller Symbole wie Kopftuch oder Kippa.“
Selbst die Staatsanwältin fordert Freispruch
Nach Abschluss der Beweisaufnahme spricht die Staatsanwältin. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Polizeimaßnahmen nicht rechtmäßig waren und hebt hervor, dass es deutliche Widersprüche zwischen den Aussagen der Polizist*innen und den Sicherheitsvideos gibt. Ein Freispruch sei daher die einzig gerechte Entscheidung.
Richter Cingi folgt dieser Einschätzung und spricht O. frei – sein erster Freispruch in seiner 15-jährigen Laufbahn, wobei er erst seit sechs Monaten als Strafrichter tätig ist. Deshalb, betont er, werde ihm diese Verhandlung besonders in Erinnerung bleiben. Auch er nimmt die auffallend ähnlichen schriftlichen Vermerke der Polizist*innen zur Kenntnis, die sich mit den Videoaufnahmen nicht decken. „Ohne das Video wäre der Fall wohl anders ausgegangen“, bemerkt Cingi. Zudem weist er darauf hin, dass sich Personen gegen rechtswidrige Polizeimaßnahmen wehren dürfen.
O.s Verteidiger betont: „Polizisten genießen vor Gericht oft einen Vertrauensvorschuss.“ Richter Cingi zeigt Verständnis für den Vertrauensverlust seitens des Angeklagten, hofft jedoch, dass dieses Verfahren dazu beiträgt, wieder mehr Vertrauen in die Justiz – auch seitens der Staatsanwaltschaft – zu stärken.
Sichtlich bewegt zeigte sich O. nach dem Urteil. Zu Tränen gerührt nahm er den Freispruch mit Erleichterung auf. Auch die Prozessbegleitenden reagierten erleichtert. Eric Clifford O. bedankte sich für die große Unterstützung und betonte, dass er mit so viel Zuspruch nicht gerechnet habe.
Der Fall von Eric Clifford O. zeigt erneut, dass Gewalt und Racial Profiling tief in den Strukturen der Polizei verankert sind. Dass O. ohne das Video möglicherweise verurteilt worden wäre, ist ein alarmierendes Zeichen für den Zustand unserer Rechtsstaatlichkeit. Besonders problematisch sind die auffallend ähnlichen Aussagen der Polizist*innen, die den Videoaufnahmen widersprechen und auf eine rechtswidrige Zeug*innenabsprache hindeuten. Zudem ist die vorzeitige Sichtung von Beweismaterial, wie etwa der Videos, für alle Beteiligten unzulässig. Warum ist es den Beamt*innen dennoch möglich, all dies ohne jede Konsequenz zu tun? Hier wird deutlich, wie leicht sich ein rechtsstaatliches Verfahren durch polizeiinterne Kompliz*innenschaft manipulieren lässt.
Dass O.s Anzeige sofort fallengelassen wurde, betont einmal mehr, dass Polizei und Justiz oft auf derselben Seite stehen und sich gegenseitig schützen. Was also tun, wenn man selbst Opfer einer unrechtmäßigen, gewaltvollen Polizeimaßnahme wird? Wichtig ist: Man hat das Recht, Polizeieinsätze zu filmen – solange die Beamt*innen dabei nicht aktiv behindert werden. Auch darf in Frage gestellt werden, warum eine Kontrolle durchgeführt wird und ob eine rechtliche Grundlage besteht. Drogentests wie Urin- oder Speichelproben sind freiwillig und können verweigert werden – ein Bluttest erfordert einen richterlichen Beschluss. Trotzdem bleibt das Risiko hoch, dass die Polizei eigene Übergriffe vertuscht und stattdessen Betroffene kriminalisiert.
Racial Profiling und Polizeigewalt sind keine isolierten Vorfälle, sondern ein strukturelles Problem, das vor allem Migrant*innen betrifft. Vollste Solidarität gilt all denen, die von diesen oder ähnlichen Ungerechtigkeiten betroffen sind. Es braucht unabhängige Kontrollinstanzen, verpflichtende Anti-Diskriminierungs-Schulungen und lückenlose Aufklärung. Wie viele Fälle gibt es, in denen kein Video existiert? Wer schützt die Menschen vor denen, die eigentlich für Schutz zuständig sind?
Von Diskriminierung und/oder (Polizei-)Gewalt Betroffene können sich beim Antidiskriminierungsbüro Mannheim melden, um Unterstützung zu erhalten: Telefon: 0621 – 4368 9056, E-Mail: vorstand@adb-mannheim.de.
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