Stadtentwicklung

37 Grad im Westwind

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Zwei Quadratkilometer Stress – Westwind für einen Stadtteil | Screenshot: ZDF, Bearbeitung: Neckarstadtblog

Nachdem sich die Wogen nach der 37-Grad-Reportage etwas geglättet haben, wirft unser Autor einen Blick auf den Einfluss, den solche Sendungen auf den Gentrifizierungsprozess vor Ort haben.

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In der Presse und den sozialen Medien war die Aufregung über die Reportage des ZDF zur sozialen Situation in der Neckarstadt-West groß. Zahlreiche Bürger*innen sahen in dem Beitrag eine verzerrte und einseitige Darstellung des Stadtteils. Man war sich zwar einig, dass die Protagonist*innen der Sendung, Akteur*innen aus Sozialarbeit und Bildung, die bemüht sind, die Lebensbedingungen der ärmsten Einwohner*innen des Viertels zu verbessern, jede Anerkennung verdient haben. Jedoch wurde die Hauptaussage der Sendung scharf kritisiert: Die Neckarstadt-West sei kein „Ghetto der Abgehängten“, sondern für viele trotz aller Probleme ein lebenswerter und ansprechender Stadtteil. Das Neckarstadtblog wies in einem Kommentar auf der Facebook-Seite des ZDF die Redakteur*innen der Sendung darauf hin, dass das Pendel in jüngster Zeit im Stadtteil sogar in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt und es zur Verteuerung des Wohnraums und somit zur Verdrängung der in der Sendung dargestellten Menschen komme.

Wie reagiert die Stadtpolitik auf die mediale Bloßstellung?

Dies wirft die Frage danach auf, wie die Sendung des ZDF im Kontext der Debatte um die Gentrifizierung der Neckarstadt-West einzuordnen ist, die nach einer Atempause in der Corona-Krise in den letzten Wochen neu entflammt ist. In der Tat kommt die Sendung des ZDF zu einem Zeitpunkt, zu dem im Stadtteil Neckarstadt-West gerade die Weichen für die Entwicklung der nächsten Jahre gestellt werden. Deswegen ist die Sorge vieler Bürger*innen berechtigt, dass hier ein Medium mit bundesweiter Reichweite ein Bild von ihrem Stadtteil zeichnet, das sich unmittelbar auf die Entscheidungen der Stadtpolitik auswirken könnte. In Mannheim ist die Politik ja seit geraumer Zeit bemüht, die Neckarstadt-West und den Jungbusch als Magneten für die Kreativbranche in der Region zu etablieren. Überregional wirksame Imagepolitik ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor.

Image-Pflege statt sozialer Lösungen

Wie ist nun aber die mögliche Wirkung der Sendung des ZDF im Kontext der Gentrifizierung zu beurteilen? Offenbar besteht hier eine große Ambivalenz. Die Reportage hat ausschließlich die problematischen Seiten des Stadtteils zu Thema: Marode Immobilien, Zwangsprostitution und unhaltbare Wohnsituationen. Dies wird nicht einmal mit einem Schwenk über die Neckarwiese oder den Neumarkt kontrastiert. Orte an welchen in unmittelbarer Nähe der Schauplätze der Reportage ganz andere Bilder möglich gewesen wären.

Stadt operiert an der falschen Stelle

Das rabenschwarze Porträt des Stadtteils könnte nun in seiner möglichen Wirkung auf die Politik auf zwei Arten gedeutet werden. Die optimistische Deutung wäre, dass hier durch den Fokus auf die desaströsen Zustände ein Weckruf in Richtung Politik gesendet wird. Zweifellos lässt es die Reportage hier an Präzision mangeln. In ihrem Fokus auf emotional wirksame menschliche Schicksale, geraten in einer für das Fernsehen typischen Weise die strukturellen Ursachen aus dem Blick. Dennoch hallt der Appell am Ende der Sendung nach: In der Neckarstadt muss etwas getan werden. In einer Zeit, in welcher der Stadtteil bereits zwei Jahre lang den Status des Sanierungsgebiets besitzt, die Stadt es jedoch versäumt hat, die damit verbundenen Instrumente zur Verbesserung der Lebensumstände der Einwohner*innen konsequent einzusetzen, ist dieser Appell angemessen. Diesen Effekt erzielt die Reportage, welche sich gar nicht in der lokalen politischen Situation verortet, sozusagen „zufällig“.

Der Ghetto-Diskurs führt vielfach zu Aktionismus

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Als „Ghetto der Abgehängten“ sieht das ZDF die Neckarstadt-West | Screenshot: 37 Grad

Der andere mögliche und leider auch wahrscheinliche Effekt den dieses Bild der Neckarstadt auf die Entscheidungen der Stadtentwicklung ausüben könnte (und teilweise bereits ausübt), ist die Intensivierung des medialen Ghetto-Diskurses, welcher den Prozess des Ausverkaufs im Viertel weiter zu verstärken droht. Wissenschaftlich ist gut erforscht1, dass die Gentrifizierung von Stadtteilen meistens von einer medialen Berichterstattung vorbereitet und begleitet wird, die die Zustände im Stadtteil skandalisiert und dessen Bewohner als „Schuldige“ darstellt. Wenn der Ruf des Stadtteils einen Nullpunkt erreicht hat, sind in der Zivilgesellschaft die kritischen Widerstände gegen Maßnahmen der Aufwertung auf ein Minimum reduziert. Da es ja in den Stadtteilen so furchtbar schlimm zugeht, ist jede Maßnahme recht, um den Ist-Zustand zu überwinden. Das Resultat ist oft eine Aufwertungspolitik zulasten der Einwohner*innen durch die sozialchauvinistische Praxis der „sozialen Durchmischung“; also der der Verdrängung eines großen Teils der Einwohner*innen zwecks Beruhigung der sozialen Lage im Stadtteil2.

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Passive Schuld tragen für das ZDF offenbar die Bewohner*innen, denn sie haben Migrationshintergrund | Screenshot: 37 Grad

An dieser Stelle muss betont werden, dass die Kritik medialer Ghetto-Diskurse nicht bedeutet, dass man die im Stadtteil vorhandenen Probleme leugnen kann oder soll. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Der Zufall wollte es, dass der Protest der Einwohner*innen gegen die Darstellung der Neckarstadt-West im ZDF, zeitlich mit einer Serie von beunruhigenden Schlagzeilen über Mord und Gewalt in eben diesem Stadtteil zusammengefallen ist. Die Probleme sind vorhanden und müssen durch eine kluge Sozialpolitik in Angriff genommen werden. Ghetto-Diskurse haben es aber an sich, ein aktionistisches politisches Klima zu erzeugen, in welchem kurzfristige Maßnahmen mit Symbolwirkung, wie eine erhöhte Polizeipräsenz und die Platzierung von imagewirksamen „Leuchtturmprojekten“ für den Stadtteil, einer nachhaltigen Verbesserung des sozialen Klimas für die dort ansässigen Menschen, vorgezogen werden. Man denke etwa an die hübsche, aber bisher völlig nutzlose „Plaza“ die am Neumarkt den Parkplatz ersetzt hat, sowie der gescheiterte Versuch dort den Alkoholkonsum zu verbieten.

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Das 37-Grad-Framing fruchtet selbst beim Grünen Stadtrat

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In einem Facebook-Beitrag beklagt sich der Grüne Stadtrat über einen nächtlichen Eierwurf auf das Café seines Westwind-Mitstreiters | Screenshot: Facebook

Am 12. Juli 2020 hat sich der Grüne Stadtrat für die Neckarstadt-West, Markus Sprengler, in einem Facebook-Beitrag auf eine Weise zum Stadtteil geäußert, die vermuten lässt, dass die Berichterstattung des ZDF hier bereits den Referenzrahmen vorgegeben hat. Im Kommentarbereich hat Sprenglers Wortmeldung reichlich Unmut auf Seiten engagierter Bürger*innen auf sich gezogen. Den Einsatz von Gentrifizierungsgegner*innen im Stadtteil anlässlich einer anonymen Eierwurf-Attacke verunglimpflichend, schrieb Sprengler (Rechtschreibung im Original):

wenn die einzige antwort der sogenannten gentrifizierungsgegner die ist, eier auf die frisch renovierte fassade des gesten neu eröffneten cafés concrete coffee roasters am neumarkt, in der neckarstadt west zu werfen, anstatt mal vehement wettbüros, spielhallen oder südosteuropäische wucher vermieter, die familien im dreck leben lassen, anzugehen, dann haben wir hier m kiez noch viel zu tun.

Ob beabsichtigt oder nicht, Sprenglers abwertende und pauschalisierende Darstellung der sozialen und gewerblichen Strukturen im hinteren Teil der Mittelstraße entspricht genau dem Bild, welches das ZDF in seinem Beitrag gezeigt hat. Es ist kein Widerspruch, dass Sprengler sich andernorts aber selbst kritisch zu der Reportage geäußert hat. Denn Sprengler verrät in seinem Facebook-Beitrag auch gleich, auf welche Weise er sich Besserung für den Stadtteil verspricht:

als für die neckarstadt west zuständiger GRÜNER stadtrat setze ich mich für vielfalt, auch gastronomische, ein.
ebenso für bezahlbaren wohnraum und initiativen, wie westwind, neckarstadt kids oder den campus neckarstadt.

Der Teufel liegt hier im Detail. In einer Reihe mit mehr oder weniger unauffälligen und begrüßenswerten Projekten, nennt Sprengler hier die Initiative „Westwind“. Hierbei handelt es sich nach dem Informationsstand des Autors um Sprenglers erste öffentliche Nennung dieses privatwirtschaftlichen, stadtplanerischen Konzepts. Ausgearbeitet hat Sprengler dieses mit keinem Geringeren als Marcel Hauptenbuchner, dem Geschäftsführer der Mannheimer Immobilienfirma Hildebrandt & Hees, der in Form zahlreicher THOR-GbRs in der Neckarstadt-West fundierten Schätzungen zufolge bereits über 30 oder sogar 40 Häuser aufgekauft hat. Dazu dürfte noch einmal dieselbe Anzahl im Jungbusch kommen, welchen das „Westwind“-Papier in seine Planung mit einbezieht. Hauptenbuchner wird trotz der scharfen Kritik an der Rolle, die seine Firma im Zuge der Vernichtung günstigen Wohnraums in den genannten Vierteln betrifft, durch seine dominierende Stellung auf dem Mannheimer Immobilienmarkt von der Stadt Mannheim inzwischen als offizieller Partner gehandelt.

(Anm. d. Red.: Audio von der Vorstellung der Ergebnisse der Lokalen Stadterneuerung).

 

Dass Sprengler, gerade in seiner Rolle als Stadtrat der Grünen, Hauptenbuchner völlig ohne Not in vorauseilendem Gehorsam zum Partner seiner politischen Pläne für den Stadtteil ernennt, ist dabei aber eine neue Stufe der Vermischung von Polit- und Kapitalinteressen in dieser Stadt. Und so ist Sprenglers und Hauptenbuchners „Westwind“ das beste Beispiel für eine Politik, welche auf der Basis von einseitigen Ghetto-Diskursen ihrerseits eine einseitige und auf Kapitalinteressen ausgerichtete Stadtteilpolitik errichtet.

Stadtteilentwicklung von unten

Der inhaltlich ambivalente Beitrag des ZDF hatte aber, wie bereits angedeutet, nicht nur schlechte Seiten. Viele Bürger*innen fühlten sich persönlich durch die verzerrte Darstellung des Stadtteils berührt und entwickelten den Wunsch der Neckarstadt-West des ZDF „ihre“ Version des Stadtteils entgegenzusetzen. So aber ist es möglich aus dem Stadtteil heraus ein politisches „Wir von unten“ zu entwickeln, welches sich gegen die Zuschreibungen von Politik und Medien behaupten kann. Und so verzeichnete das erste Treffen der Bürgerinitiative „Offenes Stadtteiltreffen Neckarstadt“ nach Corona, das an der frischen Luft mitten auf dem Neumarkt stattfand, den höchsten Zulauf seit seiner Gründung, während Markus Sprengler in einem benachbarten Café saß und ratlos zusah.

  1. Eine Einführung in die Thematik ist zu finden in: Lisa Vollmer: „Strategien gegen Gentrifizierung“ Schmetterling Verlag 2019; S. 25 f. Vollmer schreibt: „In ‚Ghettodiskursen‘ werden schlechte Eigenschaften bestimmten Nachbarschaften und damit ihren Bewohner_innen zugeschrieben. Sie werden so stigmatisiert (…) Den solchermaßen ’schlecht‘ segregierten Vierteln, stehen andere, ‚gut‘ segregierte Viertel entgegen, zum Beispiel alternative Viertel oder Künstler_innenviertel. Diese unterschiedlichen diskursiven Prodiktionen von Segregation haben unterschiedliche Funktionen im Gentrifizierungsprozess.“
  2. Dazu Vollmer: „Die sozialchauvinistische Idee, obere oder mittlere Schichten hätten einen positiven Einfluss auf ärmere Schichten, dient dazu, die Auflösung von ‚Problemvierteln‘ oder ‚Ghettos‘ zu legitimieren. (…) Allerdings gibt es keine empirischen Belege dafür, dass soziale Durchmischung positive Effekte für ärmere Schichten hat.“ Vollmer nennt drei Verschiedene soziologische Befunde um diesen Sachverhalt zu belegen. Ebd. S. 111
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Das Neckarstadtblog dankt für die Unterstützung von:

2 Kommentare zu “37 Grad im Westwind

  1. Die 37°-Reportage zeigt die Wirklichkeit leider nur aus der Sicht der Betroffenen. Was nicht aufgezeigt sind das Versagen der Stadt Mannheim und der Verantwortlichen, die nur Geld in Projekte pumpen, die Wählerstimmen bringen. Der Ordnungsdienst, der lieber gewinnbringend Parksünder jagt. Die Energieversorger, die mit advokatischer Härte die Bewohner in den Riun treibt. Und vor allem die Job-Börse, die gepaart mit instituellem Rassismus ein falsches Verständnis von Gerechtigkeit an den Tag legt, und nur so dem internen statistischen Druck gerecht wird.Und im Besonderen die mafiösen Strukturen, insbesondere aus dem Bau- und Immobilienbereich, durch die die Leute bis auf die Knochen ausgebeutet werden. Die Polizei, die die Dealer vor den Schulhöfen gewähren lässt und bei Hilferufen schon gar nicht mehr kommt.
    Und, und, und …
    In einer Gesellschaft, in der jeder nur an sich denkt, ist das kein Wunder. Irgendwann werden die Menschen verjagt, wenn edelsaniert wird wie z.Bsp. in G 5.

  2. Horst Schneider

    Mannheimer Lokalpolitik: Ein grüner Stadtrat, ein Kaffeeröster und ein Immobilienspekulant denken sich im quasi-privaten Kreis Verbesserungen für einen Stadtteil aus, die – Überraschung! – vor allem Kaffeeröstern und Immobilienspekulanten entgegenkommen. Bei aller Fragwürdigkeit, bei allem politischen Ungeschick, das Herr Sprengler hier an den Tag legt, muss man ihm doch eines lassen: So richtig schmutzig macht er sich die Finger nicht, das Abkassieren überlässt er dann doch Herrn Hauptenbuchner und Herrn Fischer. Anders CDU-Stadtrat Nikolas Löbel: Dieser gründet einfach kurzerhand eine eigene Immobilienfirma (https://www.loebel-immobilien.de/) und wird der wandelnde Interessenkonflikt, hatte er doch einst bezahlbaren Wohnraum versprochen. Wohnraum gibt es dadurch, unmittelbar, direkt bei ihm, bezahlbar wohl aber eher nur für Besserverdienende. Während das in der CDU-Fraktion vermutlich niemanden hinter dem Ofen hervorlockt, stellt sich die Frage, ob Herr Sprengler in seiner Fraktion (und bei der nächten Kommunalwahl) auch so ungeschoren davon kommt. Wollen wir es für die Neckarstadt-West nicht hoffen.

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